Alle Interviews Alle Interviews
Dr. Volker Wissing

Quelle: Bundesregierung / Jesco Denzel

SPIEGEL: Herr Wissing, der digitale Aufbruch steht in der Präambel des Koalitionsvertrags, ein Jahr später ist davon nur noch wenig zu spüren…

Wie kommen Sie darauf? Wir haben in der Digitalstrategie 135 Zielvorgaben benannt, an denen wir uns 2025 messen lassen wollen, und kommen etwa bei der Mobilfunkversorgung und der Glasfaserverlegung gut voran. Wenn man Digitalisierung ernst nimmt, dann kann man nicht alles so lassen, wie es ist, man muss auch bereit sein, Dinge zu ändern.

Die Kritik kommt auch aus den Reihen der Ampelparteien selbst, unter anderem von der SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken.

Ich habe die Äußerung von Saskia Esken eher so verstanden, dass sie mit der Umsetzung der Digitalprojekte in den SPD-geführten Ministerien nicht zufrieden ist. Es ist gut, wenn wir uns alle immer wieder daran erinnern, welche Ziele wir uns vorgenommen haben und was wir als Regierung gemeinsam erreichen wollen.

Die Netzqualität ist vielerorts immer noch schlecht. Die Mobilfunkanbieter werden ihre Ausbau-Verpflichtungen dieses Jahr wieder nicht erfüllen. Was tun Sie dagegen?

Ich will für die Menschen in Deutschland schneller eine bessere digitale Versorgung erreichen und erwarte von den Anbietern Vorschläge, wie sie diese Probleme lösen wollen. Sie stehen hier in der Verantwortung. Falls das nicht gelingt, haben wir Strafmechanismen – und zwar, um sie auch einzusetzen.

Beim überfälligen Ausbau der schnellen Glasfaser gab es ebenfalls Ärger. Der Fördertopf war schon im Oktober leer, Länder und Kommunen schrieben Ihnen Brandbriefe. Warum läuft das alles so unglaublich zäh?

Wenn Förderprogramme so stark nachgefragt werden, ist das kein Problem, sondern ein gutes Zeichen. Als Minister kann ich aber nur so viele Anträge bewilligen, wie es die Mittel im Bundeshaushalt hergeben. Ende Oktober brach geradezu eine Antragsschwemme über uns herein. Wir haben darauf schnell mit neuen Finanzmitteln reagiert und arbeiten mit Hochdruck an einer neuen Förderrichtlinie. Es gibt zudem rund zehn Milliarden Euro Fördermittel, die bislang nicht abgerufen wurden – etwa, weil die Kommunen vor Ort keine geeigneten Tiefbauunternehmen finden. Da gibt es Engpässe, gerade in abgelegeneren Regionen. Deshalb ermöglichen wir jetzt einfachere Verlegemethoden, für die nicht so tief gegraben werden muss und eine Art Pflug ausreicht. Das beschleunigt die Sache enorm.

Sie sprechen vom sogenannten Trenching. Viele Kommunen lehnen das allerdings ab, weil dabei Straßen und Gehwege aufgeschlitzt werden – und sie Folgeschäden fürchten.

Es gab bislang kein genormtes Verfahren dafür und damit keine Klarheit, wer bei möglichen Schäden an Gehwegen oder Straßen haftet. Wir kommen bei der Normierung gut voran. Damit bauen wir enorm viel Bürokratie ab und können bestimmt viele bisher zögerliche Kommunen überzeugen.

Die Große Koalition hatte versprochen, dass bis zum Jahresende 575 Anwendungen im digitalen Bürgeramt funktionieren, zuletzt sollten es noch 35 werden. Es ist Dezember – wie viele schaffen Sie tatsächlich?

Es müssen so viele wie möglich werden. Die i-Kfz-Leistungen rund ums Auto werden wir flächendeckend im kommenden Jahr anbieten, und nicht erst im Dezember. Dazu kommt möglichst schnell die elektronische Identität, die eID, sie ist die Basis für viele andere Anwendungen und eines der zentralen Projekte unserer Digitalstrategie.

Eigentlich gibt es die mit dem elektronischen Personalausweis schon seit 2010. Das Problem ist, dass maximal zehn Prozent der Leute die Onlineausweisfunktion nutzen …

Für mich ist das ein Beispiel, wie man es nicht machen sollte. Anfangs mussten die Bürger auf dem Einwohnermeldeamt aktiv zustimmen, dass diese Funktion aktiviert wird. Seit ein paar Jahren müssen sie aktiv ablehnen. In der Ukraine gibt es einen digitalen Ausweis für alle. Jetzt im Krieg zeigen sich die Vorteile. Ringsum fallen Bomben, aber dank der digitalen Verwaltung funktionieren Staat und Behörden weiter. Aber nicht nur im Krisenfall führt die Digitalisierung zu mehr Resilienz, sie kann die Verwaltung insgesamt bürgerfreundlicher und effizienter machen.

Deutschland tut sich dagegen bei den Coronahilfen oder bei den Energie-Soforthilfen schwer, gezielt Haushalte zu unterstützen, weil vieles noch analog läuft.

In einer modernen Gesellschaft ist das kein Zustand. Wir müssen präzise und schnell sein, das geht nicht analog. Analog dauert es viel zu lange, massenhaft Anträge zu prüfen, auszusortieren und zu bescheiden. Deshalb behelfen wir uns mit Pauschalen, was zu Kritik führt, weil auch diejenigen sie bekommen, die sie eigentlich nicht brauchen. Unser Staat könnte effizienter, bürgernäher und präziser arbeiten, wären wir in der Digitalisierung weiter.

Sie schieben die Verantwortung ein bisschen weit von sich weg …

Mich irritiert selbst am meisten, wie viele in diesem Land nach Gründen suchen, warum man dieses und jenes lieber weiterhin analog machen sollte – und dass wir nicht viel stärker die Riesenchancen sehen, die eine digitale Gesellschaft mit sich bringt.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Das 9-Euro-Ticket. Ich wollte ein rein digitales Ticket, aber man hat mich händeringend gebeten, auch Papiertickets anzubieten. Von den 52 Millionen verkauften Tickets waren dann tatsächlich 26 Millionen analog. Von einer Selbstverständlichkeit, digitale Medien zu nutzen, sind wir weit entfernt – darüber bin ich erschrocken. Das ist besonders für Menschen enttäuschend, die mit den bisherigen Zuständen nur schwer zurechtkommen.

Wen meinen Sie?

Menschen mit Einschränkungen beispielsweise, denen das Handy eine ganz neue Form der Teilhabe bietet. Denken Sie an blinde Menschen, für welche die Sprachsteuerung ihres Handys ein wichtiges Hilfsmittel sein kann. Oder körperlich Eingeschränkte, die sich zu Behörden quälen und dann dort teils noch lange warten müssen – für sie wäre das digitale Bürgeramt ein Riesenfortschritt.

Die Politik ist weiter als viele Bürgerinnen und Bürger, wollen Sie sagen?

Wo Ängste sind, fehlt Vertrauen. Wir Politiker müssen die Dinge so gut, sauber und verlässlich regeln, dass wir die Angst vor Veränderung abbauen und den Menschen die Chancen aufzeigen. Wir haben jetzt mit diesem Digitalministerium auch eine starke Stimme, die sich international für einen Rechtsrahmen einsetzt, der Vertrauen und Verlässlichkeit schafft. Wir leben ja nicht auf einer Insel. Alle anderen ringsum digitalisieren sich immer stärker. Wenn wir nicht mitgehen, werden wir die Nachteile auch ökonomisch immer stärker spüren. Jeder hat doch im Sommer an den Flughäfen gesehen, was passiert, wenn Fachkräfte fehlen. Mit digitalen Technologien können wir die Sicherheitskontrollen effizienter und schneller machen: indem wir stärker biometrische Daten und präzisere Scanner nutzen. Wir werden diese Knappheiten bei Fachkräften und Ressourcen in den kommenden Jahren immer stärker spüren, und analog werden wir aus diesem Dilemma nicht herauskommen.

Der Bund taugt da nicht gerade als Vorbild. Seit 2015 soll die IT von Ministerien und Behörden modernisiert und vereinheitlicht werden. Bislang ist das Vorhaben ein Milliarden verschlingender Flop. Nun ist auch noch das Wirtschaftsministerium von Robert Habeck ausgeschert, ihr Co-Einlader zum Digitalgipfel der Bundesregierung diese Woche. Ist das nicht ein fatales Signal?

Ich werde darüber noch einmal mit ihm reden.

Sehen Sie überhaupt Bereiche, in denen Deutschland in der Digitalisierung führend ist?

Beim autonomen und vernetzten Fahren liegen wir eindeutig vorn. Mitte dieses Jahres haben wir als erstes Land der Welt dafür gesorgt, dass auf festgelegten Strecken autonomes Fahren im sogenannten Level vier rechtlich möglich wird, bei dem das Auto schon überwiegend selbst navigiert. Auch beim digitalen Parkplatzmanagement für Lkw sind wir gut, damit lassen sich auf derselben Fläche doppelt so viele Laster abstellen und damit natürlich auch Logistikketten besser planen. Beim Deutschlandticket setze ich mich für eine digitale Lösung ein. Wir brauchen endlich eine konsequente Haltung. Ich habe dafür die volle Rückendeckung, nicht nur von meiner Partei, sondern auch vom Bundeskanzler.

Umstritten ist in der Koalition die Überwachung von Messengerdiensten, die sogenannte Chatkontrolle. Die Innenministerin zeigte dafür zunächst Sympathien, Sie haben sich kritisch geäußert.

Ich lehne eine Chatkontrolle entschieden ab. Eine Chatkontrolle würde unsere Kommunikation verändern. Wenn wir ständig im Hinterkopf haben müssen, dass Algorithmen unsere Formulierungen überwachen und womöglich fehldeuten, dann haben wir irgendwann Filter im Kopf. Das passiert ganz schleichend, das darf man nicht kleinreden – für mich wäre das kein humanistisches Internet mehr.

Sie sind selbst bei Twitter aktiv. Wie lange noch?

Ich hänge emotional nicht an Twitter und verfolge die Firma seit der Übernahme durch Elon Musk kritisch, aber momentan denke ich noch nicht an einen Ausstieg. In der digitalen Welt ist es generell problematisch, dass sich zu viel Macht auf einzelne Personen konzentriert. Was mich speziell an dieser Plattform schon länger stört, ist die Verrohung der Sprache, die mangelnde Bereitschaft zu differenzieren, die Empathielosigkeit. Für einen Politiker ist das ja noch einfacher auszuhalten, wir müssen früh lernen, mit Anfeindungen umzugehen. Aber selbst ich denke manchmal: Das ginge etwas rücksichtsvoller. Ich wünsche mir, dass wir hier wieder mehr zu einem Miteinander kommen und Diskussionen, auch auf Twitter, differenzierter führen.

Das Interview führte Marcel Rosenbach.