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Dr. Volker Wissing

Quelle: Bundesregierung / Jesco Denzel

Herr Wissing, Deutschland klagt über die Bahn. Selbst Bahn-Chef Lutz spricht davon, hinter eigenen Ansprüchen zurückzubleiben. Ab wann ist die Bahn wieder ein verlässlicher Partner, wenn es um die Personenbeförderung geht?

Wir arbeiten sehr engagiert daran. Mit der Sanierung hin zu Hochleistungskorridoren wollen wir die Störanfälligkeit der Strecken beseitigen und gleichzeitig deren Leistungsfähigkeit erhöhen. Das bringt insgesamt mehr Kapazitäten, mehr Pünktlichkeit und damit auch mehr Verlagerungsmöglichkeiten auf die Schiene. Der Bund investiert in diese Generalsanierung Rekordsummen. Das wollen wir in den nächsten Jahren fortsetzen. Denn mit jedem sanierten Korridor verbessert sich die Leistungsfähigkeit des Gesamtnetzes. Insgesamt fließen in diesem Jahr rund 16,3 Milliarden Euro als Investitionen in die Schiene.

Die Generalsanierung startet Mitte Juli mit der Riedbahn zwischen Frankfurt am Main und Mannheim.

Die Riedbahn ist aktuell noch für sehr viele Zugverspätungen in Deutschland verantwortlich. Jeder siebte Fernzug passiert diese Strecke. Aufgrund des schlechten Zustands gibt es dort mindestens eine Betriebsstörung täglich. Das führt dann zum Beispiel auch dazu, dass betroffene Züge nicht rechtzeitig gewartet werden können oder das Bordbistro nicht beliefert wird.

Wann bemerken Bahn-Kunden erste Verbesserungen?

Sobald der erste Korridor saniert ist. Das wird Ende des Jahres, also zum Weihnachtsverkehr 2024, sein. Die gesamte Korridorsanierung soll 2030 abgeschlossen sein, was sehr ehrgeizig ist. Dann haben wir ein hochmodernes und leistungsfähiges Kernnetz. Bis dahin wird es sukzessive spürbar besser für die Fahrgäste und Unternehmen.

Das heißt, schon Ende des Jahres werden Züge pünktlicher sein als im vergangenen Jahr?

Es wird besser sein. Wenn die Riedbahn saniert ist, sollte es dort zumindest keine netzbedingten Betriebsstörungen mehr geben. Und das wiederum macht sich positiv im gesamten Netz bemerkbar.

Der Finanzbedarf für die Sanierung ist hoch. Einige Lücken gibt es noch. Wie sicher sind Sie, das alles finanzieren zu können?

Wir haben ausreichend Mittel für 2024 und nach dem, was geplant ist, auch für 2025. Doch auch in den folgenden Jahren werden wir weitere Mittel benötigen. Dafür setzen wir uns ein. Insgesamt haben wir bereits zusätzliche 31,5 Milliarden Euro sichern können. Damit sind wir schon sehr weit gekommen. Das ist ein Riesenfortschritt und das größte Konjunkturprogramm für die gesamte Branche, das es je gab.

Muss man sich vom Streckenneubau verabschieden?

Nein, aber wir haben bereits ein Bestandsnetz von mehr als 38.000 Kilometern. Die geplanten Neubaustrecken liegen bei rund 1000 Kilometern. Es galt, deswegen vor allem eine Lösung zu finden für die Kapazitätsverluste im bestehenden Schienennetz. Die Bahn geht davon aus, nach der Korridorsanierung 20 Prozent mehr Kapazität im Bestandsnetz zu haben. Gleichzeitig treiben wir den Neubau voran, allerdings erleben wir oft große Widerstände aus der Bevölkerung. Es gibt wohl kaum Infrastrukturprojekte, die so bekämpft werden wie neue Bahnstrecken.

Denken Sie da an ein bestimmtes Projekt?

Es sind alle hoch umkämpft.

Sie haben kürzlich einen Infrastrukturfonds ins Spiel gebracht, um die Finanzierung verlässlicher zu gestalten. Warum?

Die deutsche Infrastruktur wurde in den vergangenen Legislaturen stark vernachlässigt. Zu Beginn meiner Amtszeit habe ich marode Schleusentore in unseren Wasserstraßen vorgefunden und Autobahnbrücken in schlechtem Zustand. Eine mussten wir schon sprengen. Wir haben derzeit ein Schienennetz, das dazu führt, dass Züge nicht mehr pünktlich sind. Das ist für eine Wirtschaftsnation wie Deutschland nicht hinnehmbar. Und deshalb gehen wir das mit so hoher Priorität an – auch um sicherzustellen, dass unsere Verkehrswege in Zukunft verlässlich zur Verfügung stehen. Gleichzeitig sehen wir, dass es zuletzt schon sehr herausfordernd war, die nun notwendigen Mittel für die Schiene aufzubringen. Um Deutschland aber in Sachen Infrastruktur dauerhaft wieder zukunftsfähig zu machen, muss es uns gelingen, die Investitionen über einen längeren Zeitraum hoch zu halten. Davon profitieren auch die Steuerzahler, weil dann die Bauwirtschaft Kapazitäten aufbaut und die Preise sinken.

Wie könnte ein solcher Fonds aussehen?

Das kann ich heute noch nicht im Detail beantworten. Aber wir müssen uns damit beschäftigen. Nicht zu investieren, ist ein Fehler. Nötig ist dafür Kapital. Wo das herkommt, müssen wir beantworten. Dafür gibt es verschiedene Optionen, zum Beispiel privates Kapital. Ich finde, Deutschland kann mehr. Wir sollten deshalb neue Wege finden, wie man das realisiert. Künftigen Generationen eine bröselnde Infrastruktur zu hinterlassen, ist keine gute Idee.

Bei der Fußball-Europameisterschaft will die Bahn Fußball-Fans besonders günstig durchs Land bringen. Kann das ein Vorzeigeprojekt werde? Oder sollte man besser einen Tag vor dem Stadionbesuch den Zug nehmen?

Auch ein Flieger oder ein Auto kann sich verspäten. Der Bahn macht nicht nur ein marodes Netz Schwierigkeiten, sondern sie hat auch eine noch nie da gewesene Zahl von Fahrgästen zu befördern. Das zeigt: Die Menschen sind geradezu begeistert von der Bahn. Darauf reagiert die Bahn übrigens auch während der Europameisterschaft. Es werden 14 Sonderzüge fahren mit täglich 10.000 zusätzlichen Sitzplätzen. Rund 50.000 Tickets hat die Bahn schon an Fußball-Fans verkauft, die in diesem Sommer das Turnier besuchen.

Der Verkehrssektor hat jüngst die Klimaziele erneut verpasst. Waren Sie enttäuscht?

Der Verkehrssektor, von dem Sie sprechen, das sind wir alle. Menschen, die einkaufen gehen, die zur Arbeit fahren oder zum Arzt. Das sollten wir nicht einem anonymen Sektor zuordnen. Viele Bürger können ihr Fahrzeug nicht einfach stehen lassen oder durch ein Elektroauto ersetzen. Das heißt, es sind wir alle, die CO₂ einsparen müssen, nicht irgendein Sektor. Wir arbeiten ganz konkret an mehr Angeboten für die Menschen, damit sie klimaneutral unterwegs sein können. Das können zum Beispiel auch synthetische Kraftstoffe sein.

Sie haben gerade erreicht, dass der Klimadiesel HVO 100 zugelassen wird. Wie teuer wird der für Verbraucher?

Den Preis entscheidet nicht die Bundesregierung, das macht der Markt.

Der Tankstellenverband spricht von 15 bis 20 Cent pro Liter mehr. Steigen da wirklich viele Menschen um?

HVO kann zumindest eine preislich attraktive zusätzliche Option sein, wenn man bedenkt, dass Autofahrer in diesem Fall zuvor nicht in neue Technik investieren müssen.

Glauben Sie, dass die Leute aus Idealismus umsteigen?

In den kommenden Jahren werden klimafreundliche Kraftstoffe preislich im Vergleich immer besser mit fossilen Kraftstoffen mithalten können – auch aufgrund des CO₂-Preises. Grundsätzlich brauchen wir Antworten auf die Frage, wie man für jede und jeden bezahlbare klimaneutrale Mobilität organisieren kann. Und je mehr Optionen wir haben, desto besser.

Eine Möglichkeit, die sich schnell umsetzen ließe und auch nichts kosten würde, wäre ein Tempolimit auf Autobahnen.

Das ist ein Dauerthema, aber keine Lösung. Über welches Tempo reden wir?

Das Umweltbundesamt sagt, dass ein Tempolimit von 120 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen Treibhausgasemissionen jährlich um 4,2 Prozent und um rund 6,7 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente verringern könnte.

Da geistern so viele Zahlen rum. Wichtig ist doch, dass nur Maßnahmen, die akzeptiert werden, auch Erfolg haben können. Wenn flächendeckend auf Autobahnen ein Tempolimit von 120, auf Landstraßen von 80 und innerorts von 30 gilt, hat das in Deutschland keine Akzeptanz. Das wollen die Leute nicht.

Geht die Mobilitätspolitik am ländlichen Raum vorbei?

Es müssen Angebote her, die den Menschen auch echte Teilhabe vermitteln. Ansonsten driftet die Gesellschaft auseinander. Wir können Mobilität und Logistik nicht nur aus urbaner Sicht denken. Das ist als Föderalstaat auch eine der Kernaufgaben der Bundesrepublik Deutschland. Man kann ein Land nur reformieren, wenn überall gleichwertige Lebensverhältnisse herrschen. Anstehende Transformationsprozesse dürfen nicht dazu führen, dass wir hinter diesem Anspruch zurückfallen. Klar ist, dass wir am Ende ein bezahlbares Angebot brauchen. Mobilität darf nicht zum Luxus Einzelner werden.

Das Interview führten Dominik Bath und Theresa Martus, es erschien ursprünglich hier auf morgenpost.de.