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Abbildung eines U-Bahnausstiegs mit dem Schriftzug "The Gap"

Quelle: iStcok / AdrianHancu

Ist die Zukunft der Mobilität weiblich? Was können wir uns eigentlich unter feministischer Verkehrspolitik vorstellen? Und wer nutzt welche Mobilitätsmittel und vor allem warum – oder warum nicht? Zu diesen Fragen und Impulsen der drei Mobilitätsexpertinnen Juliane Krause (plan & rat), Zakia Soomauroo (Reiner Lemoine Institut) und Dr. Alexandra König (Deutsches Zentrum für Luft-und Raumfahrt e.V.) diskutierte das mFUND-Frauennetzwerk „Women for Datadriven Mobility“ – kurz wDRIVE – am 11. April 2024 mit mehr als 60 Teilnehmerinnen. Dabei stand ein Thema im Mittelpunkt: Der Gender Gap in der Mobilität.

Ein zentrales Ergebnis aus der Veranstaltung des mFUND-Frauennetzwerks ist: Nicht nur in den Mobilitätsberufen, sondern auch in der Mobilitätsplanung ist die weibliche Perspektive bislang noch unterrepräsentiert (siehe Abbildung). Ebenfalls auffällig ist, dass der Anteil von Frauen, die in geförderten Vorhaben eine Projektleitungsfunktion innehaben, nach wie vor sehr niedrig ist. Das zeigt: Beim Thema gendergerechte Mobilität muss noch einiges passieren, um die Lücke zu verkleinern. Ein Ziel, für das auch die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Digitales und Verkehr, Daniela Kluckert auf der Veranstaltung warb.

Aber was bedeutet eigentlich gendergerechte Mobilität? Und warum ist das Thema für unsere Gesellschaft so wichtig? Über diese und viele weitere Fragen hat sich das Team der mFUND-Begleitforschung mit Meike Wenzl unterhalten, die sich bei der Managementberatung accilium mit Fragen rund um das Thema gendergerechte Mobilität beschäftigt.

Veranstaltung des mFUND-Frauennetzwerks - Ergebnisbericht (Grafik)

Quelle: mPACT / Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV)

Begleitforschung mPACT: Mit welchen Themen beschäftigten Sie sich im Alltag als Beraterin?

Meike Wenzl: Ich beschäftige mich bei accilium mit verschiedensten Aspekten der digitalen Transformation. Und hier vor allem mit dem Bereich Innovation und neue Geschäftsmodelle, dem auch die Themen gendergerechte Mobilität und Diversität in der Mobilität zugeordnet werden können.

Sie setzen sich für gendergerechte Mobilität ein. Was genau wird darunter verstanden?

Tatsächlich klingt gendergerechte Mobilität erst einmal seltsam. Daher ist es wichtig, zu verstehen, was das Wort „gender“ eigentlich bedeutet. Denn hier kommt es häufig zu einer Fehlinterpretation, die wiederum in einem Abwehrreflex mündet – was für die Mobilitätsplanung fatale Folgen hat. Aber zurück zum Ausgangspunkt: In der allgemeinen Gender-Diskussion geht es zumeist ausschließlich um (die Bedürfnisse von) Frauen, was grundsätzlich falsch ist. Im Englischen wird „Gender“, das soziale, und „Sex“, das biologische Geschlecht, unterschieden. Im Deutschen gibt es diese Unterscheidung nicht. Der Begriff „Gender“ meint also weitaus mehr und plädiert dafür, die Vielfalt des sozialen Geschlechts (und dessen Bedürfnisse) zu berücksichtigen – von Kindern über Ältere bis hin zu Menschen mit Einschränkungen.

Im Kontext von Mobilität erfordert dies einen deutlich umfassenderen Blick – und zwar über traditionelle Muster hinaus. Denn Mobilität ist eng mit sozialen Geschlechterrollen, Erfahrungen und individuellen Bedürfnissen verbunden. Gendergerechte Mobilität erweitert also den Fokus über traditionelle Geschlechtergrenzen hinaus und berücksichtigt alle Bedürfnisse in der Gesellschaft gleichermaßen.

Warum sollte wir uns für das Thema gendergerechte Mobilität interessieren, Frau Wenzl?

Weil der Faktor „Gender“ massiven Einfluss auf unsere Bewegungsmuster und auf unsere Mobilitätsentscheidungen hat. Und das sind keineswegs neue oder gar bahnbrechende Erkenntnisse. Wir wissen das schon seit Jahrzehnten.

Die Zukunft der Mobilität wird noch immer vorwiegend durch die männliche Brille betrachtet. Das ist nicht nur gesellschaftspolitisch betrachtet problematisch, sondern – und das sage ich ganz bewusst etwas provokativ – auch nicht sehr clever. Denn: Frauen und andere Gruppen im Mobilitätsökosystem machen mehr als die Hälfte des Mobilitätsmarktes aus – und damit auch die Hälfte aller potenziell zahlenden Kundinnen und Kunden. Vor allem Konsumentinnen sind nicht nur etwa zahlungsbereiter, wenn es um nachhaltige Produkte geht, sie geben auch deutlich mehr Geld aus. Das bedeutet: Wer Frauen und marginalisierte Gruppen sowie ihre spezifischen Bedürfnisse versteht, der kann damit nicht nur flexiblere Mobilitätslösungen und -angebote schaffen, die unsere Mobilitätswende vorantreiben, sondern auch wirtschaftlich davon profitieren.

Sie sagen also: Stadt- und Verkehrsplanung sowie neue Mobilitätsservices werden von Männern für Männer gemacht. Und das, obwohl Frauen aktuell die Hälfte des gesamten Mobilitätsmarktes ausmachen. Warum ist das so?

Eine sehr mutige Aussage, ich weiß. Aber im Kern ist sie richtig. Denn: Die weibliche Mobilität ist oft unsichtbar, weil sie nicht erlebt wird. Man spricht hier vom sogenannten „Gender Data Gap“. Dieser beschreibt einen Bias in den Mobilitätsdaten, der aus der unzureichenden Berücksichtigung der unterschiedlichen Mobilitätsverhaltensweisen von Männern und Frauen resultiert. So haben beispielsweise berufstätige Frauen häufig komplexere Mobilitätsmuster aufgrund ihrer zusätzlichen Verantwortlichkeiten im Familienleben, was zu mehreren, komplexeren Wegeketten führt. Im Gegensatz dazu haben Männer typischerweise primäre, lineare Wege zwischen zuhause und ihrem Arbeitsort.

Und genau diese traditionellen Mobilitätsbilder prägen noch immer viele Entscheidungen in der Stadt- und Verkehrsplanung. Und das obwohl sich die Realität längst verändert hat und die Bedürfnisse vielfältiger geworden sind. Beispielsweise müssen Menschen nicht nur zur Arbeit pendeln, sondern auch Kinder zur Schule bringen oder Care-Arbeit leisten, während andere auf barrierefreie öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind.

Die Studie „Mobilität in Deutschland“, die als wichtige Grundlage für Mobilitätsentscheidungen gilt, berücksichtigt diese Vielfalt nicht ausreichend, was den Gender Data Gap einmal mehr verstärkt und zu ungenauen Mobilitätsplanungen führt. Darüber hinaus ist die Beteiligung von Frauen an Entscheidungen im Bereich Verkehr und Mobilität bislang noch sehr gering. Über die Mobilitätsplanung entscheiden in Deutschland kaum Frauen. Um ein paar Zahlen zu nennen: Der Frauenanteil an allen Leitungsfunktionen im BMDV liegt bei 38 Prozent. Der Anteil von Frauen in der Stadtplanung liegt gerade mal bei 33 Prozent. Und der Anteil von Frauen im Vorstand der 50 größten Verkehrsunternehmen in Deutschland liegt bei 5,6 Prozent. All das hat massive Auswirkungen darauf, wie unsere künftige Mobilität aussehen wird.

Meike Wenzl, Managerin bei accilium

Quelle: accilium

Meike Wenzl, Managerin bei accilium:

Wer Frauen und marginalisierte Gruppen sowie ihre spezifischen Bedürfnisse versteht, der kann damit nicht nur flexiblere Mobilitätslösungen und -angebote schaffen, die unsere Mobilitätswende vorantreiben, sondern auch wirtschaftlich davon profitieren.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wie solch ein „Gender Data Gap“ Entscheidungen beeinflusst?

Statistiken zeigen, dass Frauen bei Autounfällen häufiger schwer verletzt werden als Männer. Die genauen Ursachen dafür sind bisher nicht eindeutig geklärt worden – obwohl logische Zusammenhänge mit der technischen Ausstattung wie Sicherheitsgurten oder Airbags klar erkennbar sind. Es fehlen schlicht international belastbare Daten aus Crash-Tests, um diese These zu belegen und das Problem anzugehen. Der durchschnittliche Crashtest-Dummy der Automobilindustrie ist traditionell an den Körpermaßen eines durchschnittlichen Mannes orientiert. Von den fünf Sicherheitstests, die ein Automodell in der EU vor der Zulassung durchlaufen muss, wird bisher meist nur ein Test mit einem weiblichen Dummy durchgeführt. Und das auf dem Beifahrersitz. Das hat natürlich starke Auswirkungen.

Ein weiteres Beispiel für das Gender Data Gap zeigt sich im Bereich der Shared Mobility, wo Männer mit rund 70 Prozent die Mehrheit der Nutzer ausmachen und Algorithmen daher das Angebot entsprechend der Vorliebe der männlichen Nutzer optimieren. Hier führt die fehlende Datenerhebung zu einer Verzerrung des Angebots, das dadurch nicht breit genug aufgestellt ist und damit auch wirtschaftlich an der Hälfte des Mobilitätsmarktes vorbei optimiert wird.

Aber auch Normen, wie etwa die durchschnittliche Gehgeschwindigkeit, die auf männlichen Daten basieren (5 km/h), beeinflussen Stadtpläne und Navigationssysteme. Studien und Feldversuche haben ergeben, dass Frauen langsamer gehen als Männer (im Durchschnitt 3,5 km/h). Diese Norm wird überall auf der Welt für die Stadt- und Verkehrsplanung verwendet, was sich konkret auf empfohlene Routen in Google Maps und Konzepte wie die 15-Minuten-Stadt auswirkt.

Was würden Sie den geförderten mFUND-Projekten mit auf den Weg geben, die mit ihren Vorhaben die Ziele einer gendergerechten Mobilität unterstützen wollen?

Die Entwicklung von Mobilitätsleistungen und die Schaffung von nachhaltigen Verkehrsinfrastrukturen, die für alle gleichermaßen geeignet sind, erfordern ein tiefes Verständnis für die unterschiedlichen Bedürfnisse und Perspektiven aller Gruppen. Hierbei kann u.a. Design Thinking unterstützen, gezielt auf die unterschiedlichen Anforderungen und Herausforderungen einzugehen.

Auch können beispielsweise sogenannte Personas dabei helfen, die Bedürfnisse, Ziele, Verhaltensweisen und Vorlieben verschiedener Zielgruppen besser zu verstehen – und diese in die Gestaltung von Angeboten und Dienstleistungen einzubeziehen. Personas können zudem als Leitfaden für die Entwicklung von Lösungen dienen und Lücken in der derzeitigen Mobilitätsplanung aufzeigen. Basierend auf echtem Feedback müssen sie allerdings regelmäßig überprüft und aktualisiert werden. Dieses Feedback kann über Reallabore oder Innovationslabs ermöglicht werden.

Und basierend auf diesem Verständnis kann dann auch die entsprechende Datenerhebung und -auswertung in den Projekten durchgeführt werden.

Was müsste in der Mobilitätsplanung getan werden, um den Gender Gap zu schließen?

Es gibt verschiedene Lösungsansätze, die uns dabei helfen können, den Gender Data Gap zu schließen: Zunächst sollten wir das Bewusstsein für den Gender Data Gap schärfen, denn dieser hat reale Auswirkungen auf die Mobilität. Auch die Förderung von Diversität in Führungspositionen kann unterschiedliche Perspektiven einbringen, um unterschiedliche Bedürfnisse in der Mobilität zu berücksichtigen.

Darüber hinaus ist es wichtig, bereits bei der Datenerhebung und -analyse die Gender-Vielfalt angemessen zu berücksichtigen. Nur so können Lösungen entwickelt werden, die die Bedürfnisse und Herausforderungen unterschiedlicher Gruppen auch tatsächlich adressieren. Gleichzeitig muss die Datenqualität sichergestellt werden, um Verzerrungen zu vermeiden. Durch die Integration in offene Datenbanken können Lösungen entwickelt werden, die vielfältige Perspektiven berücksichtigen. Sowohl die Einbeziehung inklusiver Meinungen und Sichtweisen als auch die Qualität der Daten ist also entscheidend für die Entwicklung von Mobilitätslösungen, die die Bedürfnisse aller Menschen unabhängig von Geschlecht besser berücksichtigen.

In welcher Rolle sehen Sie sich dabei als Beraterin?

Ich sehe mich vor allem als Botschafterin und Wegbereiterin für eine gendergerechte und inklusive Mobilität. Ich habe mir zum Ziel gemacht, auf dieses Thema aufmerksam zu machen und gezielt Lösungen dafür zu entwickeln. Denn durch den Fokus auf gendergerechte und inklusive Mobilität verbessern wir nicht nur die Zugänglichkeit für alle, sondern stellen sicher, dass verschiedene Perspektiven in die Gestaltung unserer Mobilitäts- und Verkehrssysteme einfließen. Das führt zu fortschrittlicheren, vielfältigeren und bedarfsgerechteren Lösungen, von denen die gesamte Gesellschaft profitiert.

Vielen Dank für die wertvollen Einblicke, Impulse und Anregungen, liebe Frau Wenzl!

Hinweis in eigener Sache: Das mFUND-Frauennetzwerk wDRIVE lädt alle Interessierten ein, sich am 15. Mai 2024 bei einem After-Work-Treffen mit uns zu vernetzen! Wir treffen uns um 18 Uhr im Café Hardenberg in der Hardenbergstraße 10 in 10623 Berlin. Wer auf unseren Verteiler möchte, schreibe bitte eine kurze E-Mail an mPACT@mfund.de mit dem Betreff „mFUND-Frauennetzwerk“.